Haupt erhoben. Aus der Spiegelwand neben der Wohnungstür starrten sie silbergraue Augen an. Vicki packte die Türklinke und mußte dann feststellen, daß sie ein anderes Herz hören konnte, das im Takt mit ihrem schlug.
Henry.
Im Flur. Fast schon an der Tür.
Vampir.
Dann kam ihr ihr Gedächtnis zur Hilfe und fügte Cellucis Definition hinzu: Autor von Liebesromanen.
An diese Definition klammerte sich Vicki, und es gelang ihr, ihren Instinkt zu bändigen. Ihr Atem ging langsamer, und das Dröhnen in ihren Ohren wurde zum leisen Rauschen. Nun gut, dann war es eben so: Vampire teilten ihr Revier nicht mit anderen Vampiren. Aber es stand nirgends geschrieben, daß sie es nicht mit einem Autor von Liebesromanen teilen konnte.
Wie Tony gesagt hatte: alles eine Frage der Einstellung.
In Fragen der Einstellung bin ich groß! Durch diesen Gedanken bestätigt riß Vicki die Tür auf. „Warum hast du so lange gebraucht?"
Henry wich einen Schritt zurück, um ihr nicht zu nahezukommen. Seine Augen wurden dunkel, und er bleckte die Zähne. „Übertreib' es nicht, Vicki!"
„Hey ..." Vicki breitete die Hände aus, eine Geste mit Doppelfunktion: So konnte sie einerseits betonen, daß ihre Worte versöhnlich gemeint waren und stand andererseits bereit, Henry an die Gurgel zu gehen. „Wer übertreibt hier? Ich habe nur eine Frage gestellt." Aus irgendeinem Grund klangen die Worte wie eine Herausforderung, und das hatte Vicki wirklich nicht beabsichtigt. Mit der Tür zwischen ihnen beiden war ihr die Sache einfacher erschienen; jetzt, von Angesicht zu Angesicht, ließ sich die instinktive Reaktion auf die Bedrohung, die Henry darstellte, wesentlich schwerer ignorieren. „Es wurde spät, Henry. Ich habe mir Sorgen gemacht."
„Warum hast du dir Sorgen gemacht?"
Weil du alt bist und langsam wirst ...wo zum Teufel kam das denn her? Erschüttert verfrachtete Vicki den Gedanken in die hinterste Ecke ihres Unterbewußtseins. „Schon gut. Was hast du herausgefunden?"
Keine Antwort war vielleicht für beide das beste. Henry hatte die Drohung kommen sehen und bemerkt, wie schwer es Vicki gefallen war, sie wieder zu unterdrücken. Ihre Selbstbeherrschung war wirklich erstaunlich, besonders, wenn man berücksichtigte, daß sie ja erst kurze Zeit die Nacht bewohnte. Ein Hauch von Eifersucht - wie leicht es ihr fiel, die Anforderungen ihrer Natur einfach nicht zu beachten - mischte sich in den Strudel an Gefühlen, der unter der Gelassenheit tobte, die Henry nach außen hin zur Schau stellte. „Zu dem Geist gehört in der Tat ein Körper. Ich habe den Autopsiebericht kopiert und dem Ganzen eine genaue Beschreibung beigefügt."
„Danke." Vickis Finger zerknüllten den gelben Schnellhefter, den Henry ihr gereicht hatte, und dann schloß sie rasch die Tür zwischen ihnen. Sie hörte genau, daß er noch einen Moment vor der Tür verharrte, ehe er hinüber in seine Wohnung ging. Erschöpft sank sie gegen geschnitztes Zedernholz. „Soweit zum Selbstschutz mit Hilfe von Definitionen: Autor von Liebesromanen!" Ein alter Instinkt riet ihr, Henry nachzueilen und sich mit ihm zu versöhnen. Neue Instinkte drängten darauf, ihm nachzugehen und ihn zu vernichten.
Vicki verharrte gegen die Tür gelehnt, bis das Potpourri an teuren und harmlosen Gerüchen, mit dem die Wohnung erfüllt war, sich mit Henrys Duft vermischt hatte. „Langsam geht mir die Sache wirklich auf den Keks! Ich lasse mir nicht mein Dasein diktieren. Von niemandem!" Sie ging zum Schreibtisch zurück und warf den zerknitterten Ordner mit aller Wucht auf das blankpolierte Holz. „Ich werde das auf die Reihe kriegen ..."
Den Rest des Satzes verschluckte sie lieber: „... und wenn es mich umbringt." Unter den gegebenen Umständen mochte dies doch eine zu große Herausforderung des Schicksals sein.
In der Wohnung am anderen Ende des Hausflurs stand Henry am Fenster, starrte auf Vancouvers Westend hinab und massierte sich die pochenden Schläfen. Es hätte schlimmer kommen können - er hatte mit Schlimmerem gerechnet. Keiner von ihnen beiden hatte den anderen angegriffen, und ihre Unterhaltung war zwar kurz gewesen, aber im großen und ganzen doch recht zivilisiert verlaufen. Es sah allmählich aus, als hätte Vicki die ganze Zeit recht gehabt. Vielleicht ließen sich die alten Regeln ja wirklich ändern.
Immerhin hatten auch die Kojoten jahrhundertelang als einsame Jäger gelebt und lernten nun, im Rudel zu jagen. Einer seiner Mundwinkel